IT-Situation deutscher Kliniken

“Digitalisierung des Gesundheitssektors” ist in aller Munde. (Wie kongruent das ist wenn der Rest von Deutschland am FAX festhält diskutieren wir hier nicht). Dies ist eine persönliche Analyse für Interessierte, hoffentlich auch für fachfremde verständlich.

Minimaler Kontext

“Klinische IT” heute umfasst mindestens folgende Bereiche: Compliance & Datenschutz, Security, Virtualisierung, Netzwerk, Storage, Lizenzmanagement (hallo Microsoft …), Backup, Kommunikation, Device Management, WiFi, Identity, Monitoring, Betrieb, Support. Dazu kommt noch Strategie & Projektmanagement.

Medizinische Anwendungen sind darin noch nicht (!) berücksichtigt, das ist reine Technik.

(Sehr) Große Unternehmen aus anderen Bereichen haben ein Team für jedes einzelne dieser Themen.

Budget, Kosten, IT Kapazitäten

Krankenhäuser in Deutschland geben (sehr grob gemittelt) ca. 2% (Deloitte, 2018) bzw. 2,6% (Curacon, 2019) ihres Umsatzes für IT Investitionen aus. Zum Verleich (ebenso grob gemittelt): In den Niederlanden sind es 5,1%. Und naturgemäß nennt eine Studie (DKI, 2019) “unzureichende Finanzielle Mittel” als die Hauptschwierigkeit beim Thema Digitalisierung.

Die folgenden Werte stammen oder wurden abgeleitet aus der DKI-Studie, die Curacon-Studie ist ebenfalls (anderer Blick) sehr empfehlenswert (die vollständige kann man kostenfrei anfordern).

Krankenhäuser haben im Durchschnitt 8 IT-Mitarbeiter (Stand 2016: 6) mit einem “geringen Akademisierungsgrad” von 25%. Letzterer nimmt mit steigender Klinikgröße ab. Extrem grob auf alle Krankenhäuser gerechnet ergibt das 0,031 IT Mitarbeiter pro Krankenhausbett.

Selbstverständlich ist auch die Besetzung der offenen IT Stellen ein Problem, die im Vergleich schlechte Bezahlung ist dabei auf den ersten beiden (!) Plätzen der Gründe. Die Fluktuationsquote ist mit 7% offenbar extrem niedrig, der Branchenschnitt scheint bei 25% zu liegen.

Am Rande: In der Studie waren noch 45% der Krankenhäuser der Meinung, “die IT” leiste keinen wesentlichen ökonomischen Beitrag. Es wäre sehr spannend den “heute”-Wert dafür zu kennen.

Kleiner Wechsel zu “weichen Faktoren” und zur Deloitte-Studie. Hier wurden CIOs zu ihrem ist- und soll-Rollenverständnis befragt. Die meisten behaupten, ihre Zeit nicht effektiv einzusetzen: “Strategie” und “Katalysator”-Aufgaben werden zugunsten eines zu großen Operativen Anteils verdrängt.

Persönliche Analyse

Bezogen auf die ganz oben genannten Themen werden bei einem Durchschnitt von 8 Mitarbeitern offensichtlich immer mehrere Themen von einer Person betreut. Krankenhaus-IT besteht also tendenziell aus IT-Allroundern statt IT-Experten. Diese sind aufgrund der Themenanzahl, -vielfalt und monetärer Möglichkeiten höchstwahrscheinlich dauerhaft unter hoher Last, was erfahrungsgemäß wenig “Raum zum denken” lässt.

So werden oft Themen an Systemhäuser, Berater, und oft auch Hersteller (!) ausgelagert, was auf Dauer (denn jede Klinik ist eine Schneeflocke) eine sehr große Abhängigkeit erzeugt. Und natürlich: Weniger Budget, schlechteres Ergebnis.

Ganz generell führt ein Auslagern nicht automatisch zu guten Ergebnissen, denn auch das muss gut gesteuert werden. Die IT Mitarbeiter haben allerdings primär fachliche Aufgaben, und sind weder dedizierte Projektmanager noch (wie erwähnt) Fachexperten. Die Kombination mit ineffektiven CIOs macht das nicht besser.

Für das Stichwort “IT Kapazitäten” würde ich also formulieren: Höchstens unterdurchschnittlich. Die Kliniken haben zu wenig Budget, sind abhängig (und dadurch unflexibel), die Steuerung tendenziell ineffizient, und die Mitarbeiter zu breit aufgestellt.

Akademisierungsgrad und Fluktuationsquote sind übrigens keine Probleme per se in meinen Augen. Nur erfordert ein “geschickter Umgang” mit einer ungewöhnlichen Situation mentale Kapazitäten, und die sehe ich in dem Umfeld eher nicht.

Das bereitet ein sehr spezielles Feld für die anstehenden Aufgaben (siehe weiter unten).

Laufende politische IT-Bestrebungen in Deutschland

Das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG)

Am 29. Oktober 2020 trat weiterhin das Krankenhauszukunftsgesetz in Kraft. Dieses stellt den Krankenhäusern auf Antrag Finanzmittel für den Ausbau ihrer Digitalisierung zur Verfügung, sehr konkret für elf klar definierte sog. “Fördertatbestände”.

Die Erfüllung der Kriterien aus den Fördertatbeständen ist jedoch verpflichtend für alle Häuser, unabhängig davon ob Finanzmittel beantragt wurden oder nicht. Erfüllt eine Klinik zu einem Stichtag (aktuell der 01.01.2025) die Ziele nicht, droht daraufhin ein Umsatz-Malus von max. 2%.

Die Kriterien sind naiv gedacht “lange überfällig”, allerdings aus Perspektive der ist-Situation deutscher Kliniken betrachtet hochgradig ambitioniert und mit enormen prozessualen und technischen Aufwänden verbunden. Einige der geforderten Funktionen sind am Markt in der geforderten Form noch gar nicht verfügbar und müssen erst von Herstellern implementiert werden (zB das “Patientenportal”).

Das führt zu zwei nicht besonders schwer herzuleitenden Effekten:

  • Erstens, jedes Krankenhaus wird sich in den nächsten zwei bis drei Jahren mit maximaler Priorität um die Erfüllung der KHZG-Kriterien kümmern um den Umsatz-Malus zu vermeiden.
  • Zweitens, das wird sämtliche Kapazitäten binden, also werden sämtliche anderen Digitalisierungs-Aktivitäten in den Hintergrund treten.

Eine “bissige” Analyse des ganzen Verfahrens hält Michael Toss im Krankenhaus-IT Journal bereit.

Das KHZG wird auf jeden Fall DER bestimmende Faktor aller IT Projekte in den nächsten zwei bis drei Jahren. Und klar - zusätzlich zu ISiK und flächendeckender Telematik-Infrastruktur-Einführung.

Gematik, TI & ISiK

Die Gematik ist der Anforderungsgeber für digitale Standards im Gesundheitswesen. Das geht zurück auf das 2003 verabschiedete “Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung” (alternativ: GKV-Modernisierungsgesetz). Konkret wird sie zusammen mit der sog. “Telematik Infrastrukur” (kurz: TI) in § 306 SGB V ins Leben gerufen, ihre Aufgaben finden sich in § 311 SGB V (leichter nachzulesen hier).

Laufende Aktivitäten der Gematik sind (die meiner Ansicht nach “wichtigsten”):

  • (TI) die elektronische Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (eAU)
  • (TI) das elektronische Rezept (eRezept)
  • (TI) die elektronische Patientenakte (ePA)
  • (TI) Kommunikation im Medizinwesen (KIM, allerdings nur zwischen Leistungserbringern)
  • (allg. Herstellervorgaben) neue Standards für Informationstechnische Systeme im Krankenhaus (ISiK)

ISiK ist verhältnismäßig neu und verpflichtet erstmals Hersteller zur Implementierung definierter Schnittstellen. Bis zum 30.06.2023 dürfen nur noch von der Gematik “ISiK-zertifizierte” Systeme in einem Krankenhaus eingesetzt werden.

Dass die Kombination aus Gematik, Industrie und Leistungserbringern keine Liebes- und/oder Erfolgsgeschichte ist kann man ggf. daran ermessen, dass das eRezept seit 2006 entwickelt wird, zuletzt am 01.01.2022 (wieder mal) nicht eingeführt, und am 06.03. von der Politik so bestätigt wurde.

Die Einführung der TI und der angekoppelten Prozesse war das bestimmendes Thema der letzten 15 Jahre, bis dieser Titel an das KHZG übergeben wurde. Selbstverständlich allerdings hört diese “Aktivität” deswegen nicht auf, das läuft einfach parallel weiter.

Noch ein paar Zahlen hinterher

Digitalisierungsgrad

Ein Wert für den Digitalisierungsgrad von Krankenhäusern ist der sog. “EMRAM”-Indexes. Für Deutschland fand ich folgende Quellen: Springer-Krankenhausreport 2019, ein Paper auf Researchgate, Swiss eHealth Summit 2016. Der Springer-Report gibt ordnet deutsche Krankenhäuser in folgende Kategorien:

  • Stufe 7: 0% (vollständig papierlos)
  • Stufe 6: 1,2%
  • Stufe 5: 18,0%
  • Stufe 4: 5,4%
  • Stufe 3: 9,0%
  • Stufe 2: 26,9%
  • Stufe 1: 1,2%
  • Stufe 0: 38,8% (nicht digitalisiert)
  • Durchschnitt: 2,3. (Zum Vergleich: Türkei (3,8), USA (5,3), Niederlande (4,3; Stand: 2015), Dänemark (5,3; Stand: 2015))

Randnotiz: In den USA hat die Steigerung von 4,237 auf 5,460 ganze 9 Jahre gedauert. (Das sind 0,136 EMRAM-Stufen / Jahr). Im gleichen Zeitraum hat sich Kanada bei fast identsichen Voraussetzungen allerdings gar nicht verbessert. Auf dem HIMSS CIO Summit 2015 wurden das untersucht, und das formulierte Fazit war: Man braucht staatliche Führung [government leadership] um den Prozess zu treiben.

Interoperabilität

Deloitte definiert in einem Whitepaper folgende Status der Interoperabilität (von niedrig nach hoch):

  • Technische (OSI, TCP/IP, SOAP, REST, etc.)
    “Wir können ein Byte von A nach B schicken”.
  • Syntaktische (HL7 v2 & V3, FHIR, IHE ITI, DICOM, CDA)
    “Wir können strukturierte Nachrichten von A nach B schicken”.
  • Semantische (ICD, LOINC, SNOMED, ALPHA-ID, etc.)
    “Wir haben alle dieselbe Sicht auf die Welt in unseren strukturierten Nachrichten”.
  • Organisatorische (gematik, ISiK, vesta, IHE Deutschland, etc.)
    “Unsere strukturierten Nachrichten können in organisationsübergreifenden Prozessen genutzt werden”.

In ebendiesem Report ist Deutschland das Schlusslicht mit 66% “gut und einigermaßen gut” (eine Wertung die ich persönlich immer noch für sehr, sehr viel zu hoch halte). Als Ursache wird - natürlich - mangelnde Finanzierung genannt.

Dem Thema nehmen sich durchaus auch Industrievertreter an. Der BVITG zB formuliert (auch konkret mit Blick auf die Gematik, siehe weiter unten) 16 Thesen für eine “vernetzte Versorgung”.

Anmerkung: Persönlich würde ich sagen sind wir auf der syntaktischen Ebene “okay” aufgestellt, die Stichworte sind hier HL7 v2 und DICOM. Nur “okay” weil wir signifikant oft unstrukturierte Daten (hallo PDFs) in strukturierten Nachrichten übertragen. Neue Entwicklungen wie FHIR und alle darüberliegenden Ebenen finden nicht großräumig statt. Ich gebe also Stufe 2,5 von 5 (Wertung 5 ist “Ebene 4 vollständig erfüllt”).

Artikel-Updates

  • 11.03.2022 13:38: Absatz über KHZG etwas verständlicher (hoffentlich) formuliert.